Strafverfahren

    Pflicht, nach der Muttersprache zu fragen

    Das Grundprinzip, nach dem die Sprache des Strafverfahrens festgelegt wird, ist die Muttersprache des Verdächtigen - Beschuldigten Im Fall der Anhaltung, Verhaftung, Vollstreckung der Untersuchungshaft und in jedem Fall, in dem gegen eine anwesende Person vorgegangen wird, besteht die Pflicht, diese nach der Muttersprache zu befragen und diese Sprache für alle nachfolgenden Vorgänge zu benützen. Die Muttersprache in diesem Sinne hat nichts mit der Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung, die jede in der Provinz Bozen ansässige Person bei der Volkszählung abzugeben verpflichtet ist, zu tun.

    Der Person steht es natürlich frei, selbst zu entscheiden, welche die Muttersprache ist, die Antwort des Betroffenen ist auch nicht anfechtbar; trotzdem spricht der Gesetzgeber lieber von Muttersprache als von gewählter Sprache (wie zum Beispiel bezüglich der Zeugen im Zivilprozess), dies wegen der Befürchtung, dass die Polizeikräfte andernfalls die betroffenen Personen dazu bewegen könnten, die Sprache zu wählen, die für sie selbst leichter ist (normalerweise italienisch).

    Pflicht auf Übersetzung der Akte

    Nachdem die im vorhergehenden Absatz angeführte Erklärung abgegeben wurde, besteht die Pflicht, alle Akte, welche bereits in einer anderen Sprache verfasst worden sind, zu übersetzen, sofern diese der den Erhebungen unterworfenen Person zur Verfügung gestellt werden müssen (also bei Anwendung einer vorbeugenden Maßnahme oder spätestens bei der Benachrichtigung über den Abschluss der Vorerhebungen).

    Änderung der Verfahrenssprache mit Recht auf Übersetzung der bis dahin verfassten Akte

    Wird eine Person über ein Verfahren zu ihren Lasten und über die Sprache, in der die Ermittlungen geführt wurden, in Kenntnis gesetzt, so hat diese das Recht, innerhalb der Fallfrist von 15 Tagen zu verlangen, dass das Verfahren in der anderen Sprache weitergeführt werde. In diesem Fall werden alle darauf folgenden Akte in der angegebenen Sprache verfasst und die Staatsanwaltschaft muss die Übersetzung der bis dahin verfassten Akte sowie auf ausdrücklichen Antrag auch der Dokumente und Sachverständigengutachten verfügen.

    Änderung der Verfahrenssprache ohne Recht auf Übersetzung der bis dahin verfassten Akte

    Auf jeden Fall kann die dem Prozess unterworfene Person zu jedem Zeitpunkt die Fortsetzung des Verfahrens in der anderen Sprache beantragen. Im Unterschied zum vorgenannten Fall besteht hier (also nach Ablauf der Fallfrist von 15 Tagen ab Zustellung des ersten Aktes) kein Anrecht auf Übersetzung der bis dahin verfassten Akte.

    Verbot, die Sprache in den ersten 24 Stunden ab Erklärung der Muttersprache zu ändern

    Sollte die Person aufgefordert worden sein, die Muttersprache zu erklären, so kann die Verfahrenssprache nur unter der Vorrausetzung geändert werden, dass mindestens 24 Stunden seit der Festnahme, der Anhaltung auf frischer Tat, der Anwendung einer vorbeugenden Maßnahme und auf jeden Fall seit der Nachfrage nach der Muttersprache vergangen sind. Dadurch soll verhindert werden, dass die Person nach der Erklärung der Muttersprache dazu angehalten wird, die andere Sprache unfreiwillig oder um den untersuchenden Behörden entgegenzukommen zu wählen.

    Dennoch hat der Oberste Kassationsgerichtshof festgestellt, dass, sofern der Wille der den Untersuchungen unterworfenen Person respektiert wurde, keinerlei Nichtigkeit vorliegt.

    Einmalige Änderung in jeder Instanz des Verfahrens

    Die Änderung der Sprache ist nur einmal im Laufe des Verfahrens erster Instanz erlaubt und muss vor der Eröffnung des Hauptverfahrens oder vor der Formulierung des Antrages auf ein abgekürztes Verfahren beantragt werden. Auch im Berufungsverfahren kann die Änderung der Sprache nur ein einziges Mal beantragt werden und zwar:

    1. a) wenn die Staatsanwaltschaft Berufungskläger ist, vor Eröffnung der Hauptverhandlung;
    2. b) wenn der Angeklagte Berufungskläger ist, ausschließlich mit Berufungsschrift. In diesem Fall ist die Berufungsschrift in der gewählten neuen Sprache zu verfassen (bezüglich der Folgen einer Verletzung dieser Vorschrift siehe den Absatz über die Befugnisse der Vertrauensverteidiger).

    Das Verfahren vor dem Kassationsgerichtshof wird immer und ausschließlich in italienischer Sprache abgehalten, weshalb auch der entsprechende Antrag auf Italienisch verfasst werden muss.

    Mutmaßliche Muttersprache

    Sollte die den Erhebungen unterworfene Person oder der Angeklagte nicht anwesend sein oder die Antwort verweigern, so wird das Verfahren in seiner mutmaßlichen Muttersprache geführt. Die mutmaßliche Muttersprache wird aufgrund der offenkundigen Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung der Person bzw. aufgrund anderer bereits ermittelter Elemente festgesetzt (beispielsweise wenn die Person, die abgehört wird, ausschließlich oder vorwiegend eine bestimmte Sprache verwendet).

    Es muss festgehalten werden, dass eine auch offensichtlich fälschliche Feststellung der mutmaßlichen Muttersprache keinerlei Nichtigkeit mit sich bringt.

    Nichtigkeiten liegen nur dann vor, wenn eine Sprache erklärt wurde.

    Pflichtverteidiger

    Bezüglich des Pflichtverteidigers gilt festzuhalten, dass der Verfassungsgerichtshof bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer unterschiedlichen Behandlung von Vertrauens- und Pflichtverteidigern (siehe vorhergehender Absatz) erläuterte, dass nur das Vertrauensverhältnis Abweichungen von der vom Angeklagten gewählten Sprache erlaube. In der Folge kann diese Ausnahme nicht für den Pflichtverteidiger gelten, denn in diesem Fall fehlt eine direkte Beziehung zwischen dem Angeklagten und seinem Verteidiger (der von der Gerichtsbehörde bestimmt wird). Zudem wurde festgestellt, dass es wünschenswert sei, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger dieselbe Muttersprache hätten.

    Vorgenanntes Urteil ist in die Änderungen von 2001 aufgenommen worden.

    Um diesen Grundsatz zu verwirklichen und unter Gewährleistung der Privatsphäre der Rechtsanwälte, hat der Ausschuss der Anwaltskammer zwei unterschiedliche Verzeichnisse für die Pflichtverteidiger erstellt: eines für die Verfahren in italienischer und eines für jene in deutscher Sprache. Bei der Eintragung in eines dieser Verzeichnisse wird von jedem Rechtsanwalt eine Eigenerklärung bezüglich seiner Fähigkeit, die Verteidigung in der entsprechenden Sprache angemessen ausüben zu können, verlangt. Jeder Pflichtverteidiger muss also das Verteidigungsmandat in der vom Angeklagten gewählten Prozesssprache ausüben können, andernfalls kann er dem Ausschuss der Anwaltskammer gemeldet werden, welcher wiederum ein Disziplinarverfahren gegen ihn einleiten kann.

    Das Recht, Erklärungen unabhängig von der Prozesssprache in der eigenen Sprache abgeben zu können

    In den ersten Jahren nach Inkrafttreten des DPR 574/88 kam es vor, dass der Angeklagte die italienische Sprache wählte, nur um seinen Verteidiger, welcher nicht aufgrund seiner Sprachkenntnisse sondern aufgrund des Vertrauens in seine beruflichen Fähigkeiten ernannt worden war, zu begünstigen, und obgleich dem Angeklagten dann die erforderlichen sprachlichen Fertigkeiten fehlten, um in der Prozesssprache einvernommen zu werden.

    Nach einer strengen Auslegung, welche auch von Personen vertreten wurde, die an der Ausarbeitung der Normen mitgearbeitet hatten, vertreten wurde, hätte der Angeklagte sich entscheiden müssen, entweder bei der Einvernahme seine eigene Muttersprache gebrauchen zu können, oder hingegen die Sprache seines Vertrauensanwaltes, der jedoch nicht die Fähigkeit besitzt, ihn in seiner Muttersprache zu vertreten, zu wählen.

    Dieses Problem wurde vor dem Verfassungsgerichtshof vorgebracht, welcher entschied, dass die Rechte gemäß DPR 574/88 nicht die Rechte, laut Strafprozessordnung ersetzen, sondern dieselben ergänzen, da sie eine Erweiterung dieser Rechte darstellen.

    In der Folge kann das Recht gemäß Art. 109 der Strafprozessordnung, wonach Zugehörige zu einer sprachlichen Minderheit in deren Muttersprache einvernommen werden können, auch in Südtirol, wo spezielle Bestimmungen gelten, nicht verwehrt werden (bekanntlich gibt es in Italien auch andere sprachliche Minderheiten, u.a. eine slowenische im Friaul).

    Mit den Änderungen, welche 2005 eingeführt wurden, hat der Gesetzgeber vorgenanntes Urteil berücksichtigt, indem nunmehr bestimmt wurde, dass der Angeklagte in seiner Muttersprache vernommen werden kann, auch wenn diese nicht mit der Verfahrenssprache übereinstimmt; die Vernehmung wird unmittelbar übersetzt und es wird in der Verfahrenssprache protokolliert (außer bei ausdrücklichem Verzicht durch die Parteien).

    Sanktionen

    Wie bereits erwähnt, führt die fälschliche Feststellung der mutmaßlichen Muttersprache keinerlei Nichtigkeit mit sich. Andere Verletzungen werden je nach Schwerwiegigkeit in absolute und relative Nichtigkeiten unterteilt. Auf jeden Fall ist die Nichtigkeit wegen unterlassener Übersetzung der Akte relativ (muss also innerhalb einer bestimmten Frist eingewendet werden) und führt lediglich zur Übersetzungspflicht, ohne Rückkehr des Verfahrens zu jenem Punkt, an dem die nichtige Verfahrenshandlung vorgenommen worden war. Für eine genaue Angabe der Nichtigkeiten wird auf den Art. 18 bis des DPR 574/88 verwiesen.

    Vertiefungen

    Diese Notizen haben verbreitenden Charakter. Für diejenigen, welche das Argument vertiefen möchten, wird auf die Publikation von Francesco Coran „Processo penale e Diritto alla Lingua in A.A. – Südtirol“ in AA.VV. „Processo penale, lingua e Unione Europea“ CEDAM 2013 verwiesen.“ (http://shop.wki.it/)


    Letzte Änderung

    11 November 2022, 12:28